Jürgen Agether aus einem beschaulichen Ort im Saarland war Besitzer einer stattlichen Fettbrust. Ohne sich muskeltechnisch dafür qualifiziert zu haben, trug er in der Freizeit immer ein Feinripp-Muskelshirt, das er im Wochentakt wechselte und das seine schwabbelige und wabbelige Oberweite besonders gut zu Geltung kommen ließ. Dazu kombinierte er täglich wechselnde Hemden, die er offen trug, wodurch zwar sein stattlich gewachsener Flokati unter den Armen verdeckt wurde, man aber freien Blick auf den Speiseplan der letzten Woche hatte, der fleckentechnisch vom vergilbten Baumwolle-Bauch abgelesen werden konnte. Seine Haare erinnerten an einen Knäuel Spaghetti, den man mit zu wenig Wasser gekocht hatte, deshalb stellenweise verklebt waren und deren Enden wahllos in der Gegend herumgingen. Durch seine schorfige, aufgekratzte Kopfhaut wirkte es so, als würde sich zwischen den „Nudelnestern“ Kleckse von Hackfleischsauce befinden.
Jürgen war seit seinem 12. Lebensjahr begeisterter Raucher und hatte den Grundsatz, immer und überall seine Zigarette zu genießen, frei nach dem Motto „100% aller Nichtraucher sterben auch!“. Das ist so, das war so und das wird auch immer so bleiben, da ließ er sich einfach nicht vom Gegenteil überzeugen. Sportlich war er dadurch auch nicht gerade, spielte aber trotzdem gerne Fußball im Dorfverein. Das musste er jedoch nach einem Jahr beenden, da bei seinem Atmen häufig ein lautes Pfeifen zu hören war. Das ähnelte der Trillerpfeife des Schiedsrichters und machte so manchen Angriff seiner Mannschaft zunichte, weil seine Teamkollegen dachten, der Schiri hätte auf Abseits entschieden.
Da seine Eltern so starke Raucher waren, dass die Tapeten in der elterlichen Wohnung einen Farbton erreicht hatten, dass man im Maler- und Lackiererhandwerk sicher von Agether-Weiß (RAL 1003) sprechen würde, konnte man definitiv von familiärer Prägung reden. Obwohl Hajos Vater ein guter Lehrmeister war, von dem man sich perfekt das Drehen von Zigaretten abgucken konnte, machte Hajo das nicht mehr, da es beim Verkleben des Blättchens immer so aussah, als würde er Mundharmonika spielen. Tote husten nicht, daher bewies er sich schon seit seinem 17. Lebensjahr täglich, dass er lebte.
Im Oktober 1995 musste er einen großen Schicksalsschlag verarbeiten, der für ihn den Verlust der Zeitlosigkeit darstellte und sich anfühlte wie ein kleiner Tod: Das Rauchverbot auf Inlandsflügen trat nämlich in Kraft. Sie hätten ihm beide Beine abnehmen können, er wäre noch in den Flieger gekommen, hätte sogar nicht mehr auf Beinfreiheit achten müssen. Man hätte ihm beide Arme entfernen können, er hätte sich einen Zigarettenhalter bauen lassen können. Das alles hätte ihm nichts ausgemacht, aber stattdessen nahmen sie ihm seinen Stolz als Raucher, denn für ihn war die Freiheit über den Wolken nicht mehr grenzenlos. Die Aschenbecher ließen sie noch an Bord, als stilles Mahnmal der genommenen Genüsse, als Machtbeweis der Unterdrückung oder halt aus Kostengründen.
Mit einem Flugzeug ist er seit diesem Zeitpunkt nie wieder abgehoben, denn der Schmerz saß tiefer, als er durchatmen konnte. Aber Jürgen schaffte sich sein eigenes Biotop des blauen Dunstes, stellte sich ein ausrangiertes Propeller-Flugzeug in den Garten, das natürlich noch über Aschenbecher verfügte. Seitdem flog er selbst, mithilfe von Flugsimulatoren von München nach Hamburg, von Frankfurt nach Berlin und sogar auf einer Strecke, die von Airlines nie angeboten wurde: Von Helau zu Alaaf, von Kölsch zu Alt, nämlich von Köln nach Düsseldorf. Wenn er den Start geschafft und die Reisehöhe erreicht hatte, setzte er sich gemütlich in den Passagierbereich, zündete sich eine Zigarette an und atmet erst einmal tief durch. Das war dann das Zeichen für seine Frau Susanne, mit dem Servierwagen durch den Gang zu gehen und ihm das Essen zu servieren. Sollten Jürgen mal die Zigaretten ausgehen, konnte er diese wie in alten Zeiten stangenweise bei Susanne kaufen.
Zumindest bis 2001, denn da war die feine Dame plötzlich großer Joschka Fischer-Fan. Wie Jürgen es ausdrückte, schoss ihr quasi die Milch ein, wenn sie den Turnschuh-Joschi im TV sah. Susanne konnte es nach dem Schwenk von der CDU zu den Grünen noch nicht mal mehr mit dem Gewissen vereinbaren, dass Jürgen auch Inlandsflüge am Flugsimulator machte und trennte sich von ihm. Für Jürgen war das liebestechnisch Endstation ohne Sehnsucht, denn er merkte schnell, dass es für ihn die ganzen Jahre nur eine hormonische Beziehung war.
Seine Reisen durch Deutschland managte er im realen Leben mit der Bahn statt mit dem Flieger. Sollen sie in der Luft halt verbieten, was sie wollen, hier auf der Erde war man noch frei von Regularien, man war wild, frei und konnte in einer Wolle Nikotin sitzen. In einem Abteil mit 6 wunderbar gepolsterten Sitzen oder auf einem Klappsitz in Gang. Entweder war man stolz auf das Errauchte und genoss den Qualm, oder man machte das Fenster eigenständig auf. „Mach das mal im Flugzeug“ dachte sich Jürgen dann immer mit einem süffisanten Grinsen. Alles war gut, sehr gut sogar. Die Welt war in Ordnung. Dann kam der 1.September 2007. An diesem Tag brach für ihn wieder eine Welt zusammen, es war fast so, als würde in ihm irgendwas zerbrechen, ja eigentlich eher sterben. Es war der Tag, an dem bei der Deutschen Bahn das Rauchverbot in Kraft trat. Daher konnte er ab diesem Moment seine Zigaretten weder in vollen, noch in leeren Züge genießen.
Er überlegte erst, sich einen ausrangierten Waggon mit Raucherabteil neben sein Flugzeug zu stellen und jetzt auch noch Bahnsimulator zu spielen, um seinem Rauchgenuss in seiner Bahn weiter realistisch nachgehen zu können. Da ihm aber der Platz für einen Lok im Garten fehlte, verwarf er diesen Gedanken sofort wieder und schwenkte nur bei seinem reisetechnischen Fortbewegungsmittel um. Jürgen fuhr jetzt nur noch Auto, immer mit vollen Aschenbechern und so viel Qualm im Innenraum, dass man eher an eine Kifferbude dachte als an ein Auto, das mit 80 durch die Ortschaft fuhr. Endlich konnte er wieder reisen und rauchen, rauchen und reisen. Jürgen war glücklich, immer ein weißes Röllchen unter der Nase glimmen zu haben.
Eines Tages fuhr er tanken. Natürlich mit Kippe, mit Genuss, mit Glut. Ein tiefer Zug, ein lauter Knall, ein tiefes Loch, ein Chor lauter Schreie. Entsetze Gesichter der Passanten, Sirenen, Feierwehr, Polizei und Krankenwagen. Die Tabakindustrie muss nun ohne Jürgen klarkommen und das kleine 340 Seele-Dorf im Saarland ohne die niedliche Tankstelle. Rauchen ist tödlich, fangen Sie gar nicht erst an.

Grabstein von Jürgen Agether, Geboren 1965. Gestorben 1995, 2007 und 2009