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Norbert – Captain Nobody

Norbert (52) ist der demokratisch ungewählte Bürgermeister der Trinkerszene. Er ist außerdem für die Passanten der lebende Schlussverkauf, denn er wird von ihnen zu 99 % auf sein Äußeres reduziert. Die Realität hat ihn einfach zweimal überholt, dabei war er schon im Weltrekordtempo unterwegs Richtung Lebensabend. Er hatte richtig was auf dem Kasten, war Professor an der Uni und lebte mit seiner Frau in einer schicken Behausung mit Garten und Pool im Süden der Republik. „Ihm schien die Sonne aus dem Arsch“ hätte man wohl damals gesagt.

Bis zu dem Tag, an dem er wegen der Gedächnisaussetzer und des vereinzelten Verwirrtseins bei seinem Hausarzt war, der ihm die Wahrscheinlichkeit eines Hirntumors ausrechnete. „Ich hatte ja immer schon was im Köpfchen“ war seine erste Reaktion, gefolgt von einem markerschütternden Lachen. Sarkasmus pur, typisch Jürgen. Er hatte keine Zeit zu verlieren, alles musste auf den Prüfstand. Das war seine Initialzündung auszubrechen, was er dann auch tat. Er ließ alles hinter sich und heuerte im Hamburger Hafen auf einem Schiff an, das Erste von Unzähligen, die noch folgen sollten.

Er fuhr auf den ganz großen Pötten für Kost und Logis und wurde so zu Captain Nobody, denn auf dem Meer waren Namen Schall und Rauch. Er überlebte so manche Meuterei, bei der schon mal die halbe Crew über Bord gegangen war und so unter den Haien kurzzeitig Freunde fand. Ob ihn jemand suchen würde, konnte er ausschließen, da sich seine Frau schon seit Monaten mit einem anderen eingelassen hatte und die Liebschaft und das hinterlassene Haus nebst Fuhrpark und gut gefülltem Bankkonto, einer passablen Aktienanzahl und dem Bankschließfach sie sicherlich trösten würden. Wilde Jahre auf See waren das, die er nicht missen will. Er hatte viele Länder und Kulturen kennengelernt. Aber irgendwann war Schluss. Das Heimweh nach Deutschland war zu groß und die Menge an Rum, die durch die Kehle floss, war auch zu viel, um das noch einige Jahre durchzustehen.

So folgte beim Einlaufen in den Ursprungshafen sein zweiter Neuanfang. „Junger Mann zum Mitreisen gesucht“ stand auch dem Schild der Achterbahn auf dem Hamburger Dom. So stürzte er sich in das nächste Abenteuer und in die nächste Szene, bei der man kein Kind von Traurigkeit sein darf. Aber sein Kopf half ihm schon auf See, Dinge zu vergessen, die man sowieso lieber für sich behält. Auf westeuropäischen Volksfesten war auch alles ok, aber in Osteuropa verabschiedete sich ein spontan angeheuerter Hilfsarbeiter schon vor der ersten Fahrt aus dem Looping und wurde durch die nächste Arbeitskraft ersetzt. That’s Life. Durch sein zeitweise gestörtes Gleichgewicht war er schon längst sicher, dass in seinem Kopf etwas anderes die Regie übernommen hatte und so blieb er selbst lieber am Boden und verkaufte Lose oder sammelte Fahrchips auf irgendeiner Attraktion ein.

Wieder sah er viel von der Welt in seinem eigenen One Person Low Budget Reisebüro. Der Alkohol war schon lange nicht mehr sein Freund und Tröster, worauf er sehr stolz war. Und eines Tages entschloss er sich, anzukommen. Einfach nur anzukommen. Von dem wenigen Ersparten kaufte er sich einen Schlafsack und ein Zelt. Das Ruhrgebiet war sein Ziel, mitsamt der ganzen Industriekultur. Das restliche Geld reichte ein paar Wochen, in denen er sich mit der städtischen Trinkerszene anfreundete und von Ihnen die Sachen lernte, die Ihm halfen, wieder auf der Straße zu überleben. Er glaubt endlich an das Gute im Menschen und an eine solidarische Gesellschaft. Seine Vergangenheit vergisst er immer mehr. Er ist angekommen, endlich angekommen.

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