Kai Oliver Petersen ist nun seit 30 Jahren Türsteher beim Technoclub 160BPM in Bremen. Er macht eine harte Tür, obwohl er kein Schreiner ist, sondern Promenadologie und Friesische Philologie studiert hat. Kai ist behaart, aber fair, wenn es um den Einlass geht. Probleme hatte er nur einmal, als 3 Jugendliche ihm in einem unaufmerksamen Moment ein kleines Vorhängeschloss mit Zahlenkombination durch den Ohrtunnel steckten und zudrückten, weil sie mehrfach nicht in den Club kamen. Folgen für die Jungs: Bremen-Nord Verbot und 2-3 Wochen Schmerzen durch eine Spezialbehandlung von Kais Kleiderschränken Jens und Peter, damit das ein Einzelfall blieb.
Kai ist ein 2m-Hüne, der mit einem Oberkörper ausgestattet ist, dass die Füße beim Duschen trocken bleiben. Am Hals hat er rechts ein fettes PAIN Tattoo, das von den Gästen als Aussage gewertet wird. Der Hintergrund ist allerdings trivialer und den kennen nur Kai und der Tätowierer in Paris. Ihm war der erste Teil nämlich schon zu schmerzhaft, da hat er drauf verzichtet sich auf der linken Seite PARISIEN stechen zu lassen. Ja, er liebt französisches Weißbrot, aber das geht auch ohne Tintenhals.
Kai macht wie erwähnt eine harte Tür, aber um unberechenbar zu bleiben, schaffen es manchmal Leute durch, die auf den ersten, zweiten und dritten Blick nicht in den Laden passen. Die Frau um die 50 zum Beispiel, bei der man im ersten Augenblick an eine Brustbehaarung denkt, dann aber bemerkt, dass der Ausschnitt vom Kleid einfach nur zu tief ist. Auch der Mittdreißiger im Elektrikerhemd, also allen Knöpfen auf Spannung oder ein Smoothie-Torben im Designerjogger nebst passenden Sneakers sorgt für Verwunderung unter den zuvor abgelehnten selbsternannten Stilikonen. Diese angetrunkenen Typen, die quasi noch den Finger in der Bierflasche haben, nerven Kai besonders und schaffen es nie an ihm vorbei. Getrunken wird schließlich im Club und nicht davor, um dann den ganzen Abend an einer Cola rumzunuckeln, ab 2 Uhr nachts den Polokragen hochzuklappen und den Angriff auf die Single Lady zu starten. Lindnern nennt man das in Türsteherkreisen.
Auch diese ständigen Versuche, sich den Zutritt zu erkaufen, nerven ihn mittlerweile. Wenn mal jemand etwas Neues versuchen würde, zum Beispiel ne 2 Euro Münze aus San Marino oder dem Vatikan. Oder auch einfach mal ein altes Familienrezept für Quiche Lorraine oder gedeckten Apfelkuchen. Aber nein, immer diese plumpe Art, ihm einen Fuffi hinter das Einstecktuch zu stecken. Da blieb Kai völlig emotionslos.
Keine Gefühle zeigen ist wichtig in seiner Position, was er auch in der Zeit schaffte, als er um seine Athene trauerte. Seine geliebte Schildkröte Athene hatte kein leichtes Leben, da sie bei ihrem Vorbesitzer, der sie in einem Außengehege hielt, von einer Krähe entführt wurde, die sie nach ca. 50 Meter aufgrund ihres Gewichts fallen lassen musste, wobei das Hinterbein als Trophäe im Schnabel blieb. Kai holte sie aus dem Tierheim und ließ ihr anstelle des Beins eine Skateboardrolle inklusive neuster Kugellagertechnik befestigen, wodurch Athene wieder komplett mobil war und noch 20 Jahre bei ihm lebte. Natürlich nur in der Wohnung und einem speziellen Bereich im Wintergarten. Ach liebte er das Geräusch der Rolle, wenn er nach der Schicht nach Hause kam und wusste, dass ihn Athene „schwungvoll“ begrüßte. Sie drehte sich dann immer wie eine Gondel im Breakdance auf der Kirmes und riss die Augen auf. Was ein toller Anblick und immer wieder wie Musik in seinen Ohren.
Athene starb vor einem Jahr in der gleichen Art, wie Kais Opa: Alleine und im Panzer. Kai war völlig durch den Wind und beschränkte sich ab da in der Freizeit nur noch auf den Trauertriathlon Couch-Kühlschrank-Bett und hatte auch keine Lust mehr auf sein Hobby Guerilla-Knitting. Kai fand es immer lustig, dass man sich heutzutage neudeutsch als Knitter bezeichnete, wenn man einfach gerne die Nadeln kreuzte, um wie Oma früher Wollprodukte zu erschaffen.
Früher hing er an der Nadel um zu Stricken und seine Umwelt bei Nacht und Nebel in einem selbstgestrickten schwarzen Ganzkörperanzug, auf dem sich auf der Brust zwei Stricknadeln kreuzten, mit seinen Kreationen zu verschönern. Aber jetzt fühlte er sich nur noch allein, ohne seine Schildkröte hatte er niemanden mehr. Er hatte auch keine Lust mehr auf seine speziellen Starwars-Nächte, in denen Hand Solo angesagt war, wenn er Harrison Ford sah. Er lebte nicht mehr, er existierte nur noch für die Tür.
Er wollte schon seinen Job hinwerfen, aber dann hätte er wahrscheinlich den Mann seines Lebens verpasst, der da an einem Freitag in der Schlange vor dem 160BPM stand. Nicht zur Alterskontrolle, sondern um seinen Namen zu erfahren, ließ er sich seinen Ausweis zeigen. Als der Unbekannte ihn aus dem Portemonnaie holte, fielen ihm Aufkleber auf den Boden, die sich wohl im selben Fach befanden. Bei den Stickern handelte es sich um Treuepunkte vom örtlichen Strick- und Häkelhändler Wolle Petri. Kai war zwar seit Athenes Tod nicht mehr da gewesen, aber er hatte in der Tageszeitung gesehen, dass man mit einem vollen Stickerheft 40 % Rabatt auf die Outdoor Nadelset-Serie „Raw Men Knitting“ der Marke „Knitting Hill“ bekam. Das war kein Wink mit dem Zaunpfahl, das war eher schon ein ganzer Jägerzaun.
Kai verwickelte Georg, wie der nette Herr laut Ausweis hieß, in ein Gespräch, das die Warteschlange minütlich weiter anstauen ließ, was Kai bei diesen Augen, in die er jetzt seit 20 Minuten blickte, einfach nicht interessierte. Er sah locker mal 15 Jahre jünger aus, als auf dem Ausweis ausgewiesen. „Geheimnis? Cremerei!“ sagte Georg mit einem verschmitzten Lächeln, das Kai weiter zum Schmelzen brachte. Wie sich herausstellte, war auch Georg seit längerem salopp gesagt „Knitterfrei“, also Single-Stricker, sodass sich die Beiden für den nächsten Tag auf einen Kaffee verabredeten. Kai schlief nach dieser Schicht, das erste Mal wieder mit einem Grinsen ein. Und voller Vorfreude.
Wie sich in den Wochen danach herausstellte, sollte das Grinsen von Dauer sein. Kai und Georg teilen mittlerweile Tisch, Bett, Wolle und Nadeln. Und Georg liebt es einfach, wenn Kai in seinen Strickanzug schlüpft. Kai hat ihm jetzt auch einen angefertigt, allerdings mit einem Wollknäuel auf der Brust. Also haltet mal Ausschau nach den Beiden. Gut Strick.