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Beziehungswaise

Simone hatte Werner beim Kennenlernen wegen seines Alters für einen Erwachsenen gehalten, aber er hatte sich mit 40 wohl gedacht, dass es sich nicht wirklich lohnen würde, in der zweiten Lebenshälfte noch erwachsen zu werden.

Seit neuestem traf er sich fast jeden Tag im Park, um mit seinen Kumpels abzuhängen. Sie spannten Gurte zwischen Bäumen und balancierten von Seite zu Seite. Simone hatte sich überreden lassen, ihn mal dabei zu beobachten. Das sah bei Werners Buddys mitunter sehr professionell aus, auch wenn es für Simone so wirkte, wie ein Anschleichen von Kindern, die ihre Eltern erschrecken wollten. Bei Werner sah es eher so aus, als würde ein Tanzbär auf einem Hochseil mit einem imaginären Schirm versuchen, das Gleichwicht zu halten. Er war halt durch seine 25 Kilo Übergewicht so gelenkig, wie ein Garderobenständer.

Simone fand den „Sport“ gähnend langweilig, besonders wenn er ihr mal wieder von seinem bevorzugtes Lowlining vorschwärmte, bei dem man die Gurte nur höchstens auf Hüfthohe spannte und nicht wie beim Highlining in schwindelerregender Höhe sein Leben riskiert. Seitdem Werner mit seinen Mate-Ingos beim Slacklining am Start war, sprach er auch noch im Schlaf. Eines nachts sprang er auf und rief „Ich bin ein Fallschirmspringer, der auf Luft wartet, um wieder abspringen zu können.“ Da wusste Sie endgültig, dass er irgendwas zwischen pädagogischem Härtefall und Mensch mit interessantem Realitätsabstand war. Aber Werner übertrieb es, ging jetzt auch abends in den Park, um da in der Dunkelheit Darklining zu betreiben, Simone nannte das süffisant „Blindschleichen. Er war nun jede freie Minute im Park, wollte sich spüren, spürte aber nicht, dass Beziehung quasi nicht mehr existent war. Simone erzählte das alles ihrer Freundin Anne, die für ihre Verständnis, aber auch für ihre durchgeknallten Ideen bekannt war.

Deshalb dachte Sie auch eines Abends, als ein Mann in Polizeiuniform vor der Tür stand, Anne hätte ihr einen Stripper gemietet, der sie auf andere Gedanken bringen sollte. Das Tat Jürgen Kawallek, leitender Hauptkommissar der Mordkommision auch, aber anders als gedacht. Nachdem er das Missverständnis aufgeklärt hatte, musste er Simone mitteilen, dass Werner verstorben war. So wie sich die Sache darstellte müsse da „noch mal jemand von der Gerichtsmedizin drüber gucken“. Laut seiner Aussage war Werner wohl in der Dunkelheit vom Gurt abgerutscht und in Halshöhe auf einen Igel gefallen. Hier hätte er sich erstens das Genick gebrochen und zweitens hatten die Stacheln des Igels seine Halsschlagader regelrecht perforiert. Dem Igel ginge es aber gut, er war wohl nur etwas unter Schock, da er sich nicht mehr aus eigener Kraft von Werner lösen konnte.

Naja, sie waren ja sowieso zu verschieden. Er mochte es immer gerne sehr warm, erschuf mit seinen Heizregeln quasi eine weitere Klimazone. „Das Badezimmer muss warm sein, da hat man die Hose ja manchmal nur halb an!“ war da nur eine seiner diffusen Begründungen für eine Raumtemperatur von 27 Grad bei Außentemperaturen von gerade einmal -3 Grad Celsius. Simone liebte es seit ihrem Schüleraustausch in Dänemark und der 9. Klasse eher für kühle Räume zu begeistern. Und sie mochte Stille, Werner beschallte lieber die ganze Wohnung. Sein Lieblingsspruch war immer „Leise ist kaputt“.

Außerdem war sie Team Beton und Werner Team Raufaser. Als sie damals in die Wohnung einzogen, wehrte sich Werner mit Händen und Füssen dagegen, die vorhandene Raufasertapete von der Wand zu kratzen. Simone fand das schrecklich, besonders weil Raufaser für sie immer wirkte, als hätte jemand eine große Portion Milchreis auf eine Wand erbrochen und Sie dort trocknen lassen, um Sie dann überzustreichen. Aber Werner setze sich durch, sodass sie den Tapeten einen neuen Anstrich gönnten. In der Küche verwendeten Sie „Spiel der Dünen“, das Wohnzimmer bekam den Anstrich mit „Blüte der Provence“, das Schlafzimmer „Held des Waldes“ und das Badezimmer erhielt die Wandgestaltung mit „Sanfter Morgentau“. Obwohl Simone nah am Mittelfinger gebaut war, ließ Sie Werner gewähren.

Nun, vier Wochen nach Werners Tod, kamen die Tapeten ab, denn der Anker, der sie runterzog, hatte ja den Aggregatzustand von fest zu aschig geändert. Sie war Beziehungswaise. Nachdem sie mit Anne die Küche und das Badezimmer von Tapeten befreit hatte, begannen sie im Wohnzimmer. Dort förderten sie auf der Betonwand eine riesige Formelsammlung mit errechneten Wahrscheinlichkeiten zutage, die sich bei genauerer Betrachtung als Roulette-System herausstellten. Sie hatte bei Werners Beerdigung von den Nachbarn erfahren, dass ihr Vormieter ein richtig nerdiger Mathematikprofessor war, der wohl sehr vermögend starb, aber die Wohnung wohl im desolaten Zustand hinterließ. Der Vermieter hatte die Wohnung wohl von einem polnischen Arbeiter unter der Hand instand setzen lassen, nebst Entrümpelung und Tapezierarbeiten, obwohl er die Wände eigentlich nur streichen sollte. Typische Sender-Empfänger-Problematik und im Nachhinein sehr gut für Simone.

So war alles noch vorhanden, das todsichere Roulettesystem im Wohnzimmer und ein Blackjacksystem im Schlafzimmer. In der Abstellkammer hatte er auch noch etwas begonnen, es aber nicht mehr finalisieren können. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine Pünktlichkeitstechnik für die Deutsche Bahn, was aber nur eine Vermutung der beiden Frauen war.

Die beiden machten sich in den nächsten Wochen mit Roulette und Blackjack die Taschen voll. Erst in Deutschland, dann in Österreich, Tschechien und und und. Immer so lange, bis sie landesweites Spielbankverbot bekamen und so das Land wechseln mussten. Nächste Woche geht es nach Las Vegas, danach quer durch Asien. Ausgesorgt haben Sie schon lange, aber es macht einfach so viel Spaß, die Spielbanken um ihr Geld zu erleichtern. No Risk, just Fun.

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