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Couchlieferung

Jürgen Werner sitzt auf der Couch und schreibt Karten. Einige Karten. Viele Karten. Karten über Karten. Er bereitet seine nächste Nachmittags-Schicht vor, denn er ist Paketbote. Früher hat er Pizza ausgefahren, da mussten tatsächlich alle Bestellungen beim Kunden ankommen. Klingt verrückt, oder? Zu Beginn seiner Tätigkeit beim Paketdienst war er noch motiviert, alle Pakete an den Empfänger zu liefern. Aber man hat ja zum Beispiel Empfänger wie die Walters, die alle 2 Wochen vier 25 Kilosäcke Trockenfutter für Hunde bestellen und ihre Wohnung in der 6. Etage ohne Aufzug haben. Statt Trinkgeld gibt es dann lieber Sprüche wie etwa „Lieber Sie tragen die als wir“, „Passen sie doch auf ihren Rücken auf und nehmen doch lieber nur einen Sack statt 2 auf einmal“ oder „Ich bin im Homeoffice, das nächste Mal stellen Sie die Säcke einfach vor die Wohnungstür. Das Klingeln stört nämlich schon ein bisschen!“

Das tat Jürgen beim nächsten Mal gerne, aber natürlich mit einem sauberen Schnitt über die gesamte Breite der Sacknaht am Boden. Den Spaß gönnte er sich und war traurig, dass er den Walters nicht beim Aufsammeln im Hausflur zugucken konnte. Da hätte er sich mit einer Flasche Bier auf die Treppe gesetzt und angefeuert. Ab dem Moment wurde übrigens kein Futter mehr bestellt. Apropos Bier. Jürgens Frau trank zwar nicht oft Alkohol, aber wenn, dann richtig. Frei nach dem Motto „1 Bier macht keinen Sinn, entweder keins oder 12“, um das Buch des Lebens wieder auf Seite 1 zu stellen. Sie wurde in dem Zustand auch nicht ausfallend oder melancholisch, sondern einfach betrunken und fiel dann um. Ihr Name ist Katrin, wie in Wodkatrinken, den hatte sie jedoch ihr Leben lang nicht angefasst. Nur Bier halt, gelegentlich mal einen Wein. Aber nie griechischen Wein, den hörte sie nur, denn Katrin war eine wahre Schlagermaus.

Daher wurde Jürgen auch nicht hellhörig, als seine Frau die Vitrine mit ihrer heißgeliebte Muranoglas-Teelichthaltersammlung in den Keller verbannte und an dieser Stelle plötzlich einen lebensgroßen Pappaufsteller von Valentino Vegas (gebürtig Hans-Werner Schwaderowski) platzierte. Vegas, der 25-jährige Schlagerstar, der durch seine sonnengegerbte Lederhaut aussah wie Mitte 40, war bekannt durch die Chartstürmer „Am Sternenglanz in deinen Augen seh ich, dass du einsam bist“, „Lass mich der Filzgleiter für dein Herz sein, damit es keine Kratzer kriegt“ und „Ich reservier die Sonne für dich, damit du nie im Schatten stehst“. 2 Monate später brannte sie mit Valentino durch und war ständige Begleitung auf seiner Deutschlandtour mit dem Titel „Unsterbliche Liebe – Unsere Herzen brauchen keinen Defibrillator“. Alles, was Jürgen von ihr blieb, war Sohn Torben, die Teelichthalter nebst Vitrine und der Pappaufsteller, der zwei Tage später auch durchbrannte, nämlich im Kamin.

Und genau deshalb ist das heutzutage so ein Vater-Sohn-Ding, da Sohn Torben die weiterführende Schule besucht und es dort keine Nachmittagsbetreuung gibt. Das machte Jürgen erfinderisch und es hatten viele ihr Päckchen zu tragen. Denn genau deshalb schreibt Jürgen die Karten der Nachmittagstour, denn er fährt nur bis mittags Pakete rum. Sohn Torben bringt die Paketbenachrichtigungen nach der Schule mit dem Fahrrad rum und sichert sich und seinem Vater damit einen freien Nachmittag, der nur von einer Fahrt zum Paketshop unterbrochen wird, denn die Kunden müssen ja am nächsten Tag was abzuholen haben. Bei den Walters variiert Jürgen immer mit den Paketshops. Die größte Entfernung war mal 75 Kilometer, was der Tatsache geschuldet war, dass Torben und er auf dem Weg an der Nordsee waren und er das Paket vergessen hatte, um Paketshop abzugeben. Natürlich stimmte der Eintrag auf der Benachrichtigung nicht, also da war dann etwas Detektivarbeit gefragt und zumindest die Walters hatten ja einen wohlgenährten Spürhund, der ihnen helfen konnte. 

Mit seinem Chef hat Jürgen das Vorgehen abgesprochen, da der erstens auch froh ist, dass Jürgen nicht einfach kündigt, um Zeit für seinen Sohn zu haben und zweitens denkt, dass es Menschen, die jeglichen Mist online bestellen, statt ihn im örtlichen Einzelhandel zu kaufen, einfach verdient haben, den Weg zum Paketshop in Kauf zu nehmen. Jürgens Chef hat außerdem mit einigen Paketshops Umsatzbeteiligungen ausgehandelt, da die auch von Jürgens Strategie profitieren. Jürgen hat übrigens nun eine eigene Kollektion mit T-Shirts, Kühlschrankmagneten und Schlüsselanhängern herausgebracht mit dem Aufdruck „Jeder hat sein Päckchen zu tragen“ herausgebracht, die von seinen Zustellkollegen rege gekauft werden. Jürgens gibt es halt überall.

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